Jörg Rasche

Ukraine –Sandspieltherapie, Kultur und Politik

Vorbemerkung zur Sandspieltherapie:

In den letzten Jahren war ich öfter in der Ukraine, um als Kinderpsychiater, Jungianischer Psychoanalytiker und Sandspieltherapeut zu unterrichten. Die Sandspieltherapie, die mich nun schon viele Jahre immer wieder nach Osteuropa führt, ist von Anfang an aus Friedensarbeit entstanden. Sie ist auch die wohl früheste Form von Traumatherapie, zu einem Zeitpunkt, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Sie ist 100 Jahre alt. Sandspieltherapie arbeitet mit Bildern, die aus dem Unbewussten gebaut werden, und einer intensiven therapeutischen und psychoanalytischen Beziehung. Die kritische Situation der Ukraine und deren traumatische Geschichte bilden den Hintergrund meiner Arbeit, und damit auch dieses Aufsatzes.

Zunächst also etwas zur Sandspieltherapie. Sie geht auf die englisch-jüdisch-polnische Kinderärztin Margret Lowenfeld zurück. Während des polnisch-sowjetischen Kriegs 1919 ist Frau Lowenfeld in das Land ihrer Großeltern zurückgekehrt und hat als frisch approbierte Ärztin der leidenden Bevölkerung geholfen. Besonders hat sie sich der vielen Kriegswaisen und Flüchtlingskinder angenommen. Dabei hat sie erfahren, was Kinder brauchen, um trotz schwerster Bedingungen aufwachsen und sich entwickeln zu können. Zurückgekehrt nach London hat Margaret Lowenfeld ihr Institut for Child Psychology eröffnet, in dem sie zusammen mit den kleinen Patienten die Sandspieltherapie mit den Sandkästen, dem Wasser und den vielen kleinen Figuren erfand. Diese Therapieform ist geboren aus dem Krieg, aus der Not und dem Erfindungsreichtum der Kinder. Weiter entwickelt hat die Sandspieltherapie nach 1945 die Schweizerin Dora Kalff, eine Mitarbeiterin von C. G. Jung, bei der ich noch in den 80er Jahren gelernt habe, als einer ihrer letzten Schüler.

Inhaltsverzeichnis

Sandspieltherapie ist von Anfang an Friedensarbeit, und so verstehen es auch heute die Sandspieltherapeuten, die in traumatisierten Ländern Therapien und Ausbildungen anbieten, die bisher keinen Zugang zur Sandspieltherapie hatten. Pioniere dieser Arbeit waren Dora Kalff selbst in Japan nach dem zweiten Weltkrieg, später Linde von Keyserlingk in Lettland, Deborah Bedford-Strohm in Südafrika oder Eva Pattis (die allerdings nicht das Kalffsche Sandspiel lehrt) in Kolumbien. Ruth Amman ist eine unermüdliche „Gärtnerin“ des Sandspiels weltweit. In Polen habe ich selbst zehn Jahre Sandspiel unterrichtet. 2011 hat Thomas Mantel, unterstützt von Linde von Keyserlingk, Günter Still, Anke Seitz, Ulrike Hinsch, Ulrich Gwinner , Deborah Bedford-Strohm und mir eine Ausbildungreihe zum Sandspiel in Ternopil in der Ukraine begonnen. Es war ein Abenteuer, das uns alle, Ukrainer und Deutsche, die komplexe und schuldbeladene Geschichte sehr emotional spüren ließ. Die politischen Umstürze der folgenden Jahre (insbesondere der Euro-Maidan 2014) haben gezeigt, wie wichtig eine Therapieform sein kann, die das symbolische Gestalten fruchtbar macht, um im eigenen Leben einen Sinn zu finden und das kollektive Geschehen besser zu verstehen. Es ist oft erschütternd zu erleben, wie generationenalte schwere Traumata im Sandspiel aufbrechen und zum ersten Male beweint werden können. Doch der Maidan war auch ein Aufbruch aus einer jahrhundertalten Verstrickung in Abhängigkeit und kolonialistisches Denken.

Im Folgenden beschreibe ich meine Erfahrung in Kiew in der Ukraine, aus drei Jahren, nämlich 2013, 2017 und 2019. Der erste Teil ist die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes in der Zeitschrift für Sandspieltherapie vom Juni 2014.

Ostern 2013

Ich war Ostern 2013 in Kiew auf einer Tagung von Kindertherapeuten. Manche Kolleg*innen sagten mir, dass es bald einen Aufstand geben werde. Es war klar, dass die Konflikte, die Traumata der Geschichte und das soziale Elend einer Generation nach dem Kollaps des Sowjetsystems und 10 Jahre nach der orangenen Revolution (2004) demnächst zu einem Ausbruch führen würden. Der Aufstand vom Maidan lag schon in der Luft, doch noch lag Kiew friedlich im tiefen Schnee.

Ich wusste nicht viel von Kiew, obwohl ich vor langer Zeit 1971 ein Semester Slawistik studiert und mit dem Kommilitonen Karl Schlögel selber ein Seminar über die Kiewer Rus gehalten hatte – bevor ich Medizin studierte. Kiew war für mich eher ein Traum aus alter Zeit, mit seinen goldenen Kuppeln und der Weite um den Strom Dniepr. Die deutschen Verbrechen des 2. Weltkriegs in der Ukraine hatte ich ausgeblendet. Die Ukraine war immer ein kulturell reiches Land zwischen Asien und Europa. In Kiew ist die orthodox-Russische Kirche entstanden, mit der Taufe von Tausenden im Dniepr im Jahre 988. Die Kiewer Rus war der erste russische Staat, lange bevor Moskau das Heft an sich zog. In Kiew ist Bulgakow geboren, der mit „Meister und Margarita“ den vielleicht besten modernen Roman überhaupt geschrieben hat.

Meine Kiew-Reise 2013 hat meinen Horizont erweitert; ich erfuhr einiges über die reale und erlittene Geschichte. Die Auflösung der UdSSR und die neue Selbständigkeit der Ukraine haben vieles geändert, was uns im Westen jedoch kaum berührt hat – auch hier wurde einiges ausgeblendet. Die Ukraine hat beispielhaft erlebt, was es bedeutet, aus einer kolonisierten Rolle innerhalb eines Empires (der Sowjetunion) heraus zu kommen und einen neuen, eigenen Staat zu schaffen. Viele Menschen sagen heute, dass Hoffnungen, die an die Perestroika geknüpft waren, sich nicht erfüllt haben. Der Homo Sovieticus mit seinen Hoffnungen und seiner Identität hat ausgedient, die Wirtschaft und die Sicherheit ganzer Generationen sind zusammengebrochen, und Großkriminelle haben sich der Fabriken und Bodenschätze bemächtigt. Die Wut, die jetzt hervorbricht, speist sich aus den getäuschten Hoffnungen einer ganzen Generation – sei es jetzt auf Seiten der demokratisch motivierten Demonstranten oder auch der ukrainisch-nationalistischen Rechten. Der Konflikt mit Russland (dem Empire) ist uralt und hat tiefe Traumata im kollektiven Unbewussten gelegt – sozusagen psychisch aufbewahrt in „kulturellen Komplexen“. Kiew war die Keimzelle der Russisch-Orthodoxen Kultur, doch schon unter den Zaren wollte es weg von der Zentralmacht, die sich in Moskau etablierte. Als die Bolschewiken 1919 das Zarenreich zerstörten, führten sie lange Eroberungskriege, bis sie sich auch die „weiße“ Ukraine unterworfen hatten. Als die ukrainischen Bauern sich später der Enteignung und Kollektivierung der Landwirtschaft nicht beugten, requirierten die Sowjets die Lebensmittel, und Stalin veranlasste so eine Hungersnot von unvorstellbarem Ausmaß, um den Widerstand zu brechen: In 1932-33 verhungerten in der Ostukraine 8- bis 10-Millionen Menschen! Noch heute bestreitet die offizielle russische Politik diesen beispiellosen Völkermord. In den menschenleeren Gebieten, insbesondere im Osten der Ukraine, wurden nun hunderttausende russisch-stämmige und russisch-sprachige Menschen angesiedelt. Das war noch vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Überfall der Deutschen. Diese wurden erst einmal als Befreier begrüßt, bis sie ihrerseits mit dem Völkermord begannen. Die ganze Ukraine wurde zum Schlachtfeld. Das Massaker an über 33.000 Juden in der Schlucht Babyn Jar bei Kiew wurde als Vergeltungsaktion bezeichnet. Es gab immer auch (so wie in Polen) eine nicht-kommunistische, nationale Widerstandsbewegung. Als die Deutschen vertrieben waren, Millionen Tote und ein verwüstetes Land hinterließen, kamen die Stalinisten zurück und setzten ihren Terror fort.

Das ist wichtig, um die Dynamik, die Wut und den Heroismus der Menschen vom Maidan 2014 und heute zu verstehen. Auch auf der russischen Seite geht es um kulturelle Komplexe, die hier von den Medien unter der Regie des Geheimdienstes in großem Ausmaß geschürt werden. Kulturelle Komplexe (das heißt die in jeder Kultur lebendigen nicht hinterfragbaren Selbstbilder, Feindbilder und Mythologien, kollektive Erinnerungen, aber auch Sprache und Sitten) sind wichtig für die kulturelle oder auch nationale Identität, doch werden sie häufig ausgenutzt und wiederbelebt von Seiten demagogischer Politiker, welche sie für ihre Zwecke benutzen. Es geht auch bei mir selber als Deutschem um kulturelle Komplexe: ganz im Vordergrund Schuldkomplex und Verantwortung, doch auch eine Faszination vom Europäischen Osten. Dass meine Reisen nach Kiew auch mit meiner Familiengeschichte zu tun haben, wurde mir erst später klar. Davon schreibe ich später mehr.

Es gibt wohl keine Familie in der Ukraine, die nicht immer noch tief gezeichnet ist von all dem Elend des vergangenen Jahrhunderts, das über die Generationen weitergegeben wird, in welcher Form auch immer. Prägend ist weiter die Enttäuschung der orangenen Revolution 2004, die als Befreiungsschlag gedacht war. Wie soll man auch das Alles zusammendenken können, wie soll man trauern?

Das Ausmaß der seelischen Zerstörung und Fragmentierung ist spürbar auf den Hügeln über dem Fluss (dem Dniepr, der hier so breit ist wie ein riesiger See). Da sind in Blickweite drei Denkstätten hintereinander. Die erste ist ein schwarzer Obelisk zu Ehren der Roten Armee, die den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen hat, und zu Ehren Stalins. Gleich daneben ein Denkmal und erschütterndes Museum der großen Hungersnot, des Holodomor von 1932-33, der Zeit der stalinschen Machtetablierung. Die dritte Denkstätte liegt nur einen Hügel weiter: das berühmte Höhlenkloster mit seinen prächtigen goldenen Kuppelkirchen.  Der Hügel ist durchzogen von ungezählten Gängen, in denen die Mönche des Mittelalters ihre Toten begruben. Als man vor zweihundert Jahren die Gräber öffnete, waren die Leichen nicht verwest, und man schloss, dass es sich um Heilige handeln musste. Inzwischen hat man einige Hunderte an Heiligen gefunden. Die weiß gekalkten engen Gänge mit den Nischen für die Sarkophage sind offen für die Gläubigen, die mit Kerzen in der Hand hindurch schlüpfen, beten, weinen und manchmal laut heulen. Ich hatte den Eindruck, dass dies der einzige Ort war, wo das seelische Elend von Generationen einen lebbaren Ausdruck finden konnte. Auf dem Maidan-Platz ist im Februar eine andere Seite sichtbar geworden.

Ein Symbol hat mich beschäftigt:

Zwei besondere alte Kirchen gibt es im Stadtzentrum von Kiew, jede mit goldenen Kuppeln. Die Sophienkathedrale ist die ältere, errichtet wenige Jahrzehnte nach der Taufe des Fürsten Wladimir und seines Volks im Dniepr 988. Die andere, die des Hlg. Michael, sieht alt aus, ist aber erst seit 2001 wieder da. Sie hat eine hochsymbolische Geschichte. Die Stalinisten wollten an ihrer Stelle, hoch über dem Fluss, das größte Lenindenkmal der Welt errichten. Ein einziger Kunsthistoriker weigerte sich, das Dokument für den Abriss der einzigartigen großen Kirche aus dem 12. Jahrhundert zu unterschreiben, die das religiöse und kulturelle Symbol der Ukraine war. Er wurde in Russland zu Tode gebracht. Die Kirche wurde abgerissen, man begann Fundamente für den großen vergöttlichten Lenin zu legen. Eines der beiden flankierenden Riesengebäude im Stalinstil wurde fertiggestellt, es beherbergt heute das Außenministerium. Doch dann gab es Probleme. Einige Leute sagten mir, der Berg habe nachgegeben und das geplante Denkmal vereitelt. Vielleicht gab es Erdrutsche, oder der Berg ist unterhöhlt wie der des Höhlenklosters? Vielleicht wurde das Projekt auch wegen des Kriegs erst einmal aufgegeben. Die Stätte blieb wüst bis vor etwa 15 Jahren. Die Bevölkerung stiftete nun so viel Geld, dass die Kirche wieder errichtet werden konnte. Sie ist innen mit Ikonen geschmückt und ausgemalt wie früher. In den Tagen des Euro-Maidan wurde sie zum Notlazarett für verletzte Demonstranten. „Mi-Cha-El“ heisst: Wer ist wie Gott?

Babij Jar, Jesus und Pilatus. Kiew im März 2017

Wie ein schwerer Stein liegt es mir im Magen, dabei ist mir der Stein eher in den Kopf gefallen oder aufs Herz. Ich bin nicht fertig damit. Jetzt also habe ich den Mut gefunden, mir Babij Jar anzusehen, und ich schreibe es auf. Doch wer soll das lesen? Macht es überhaupt einen Sinn, wenn ich schreibe? Es ist so viel geschrieben worden, und niemand kann es mehr lesen, weil es in den Lagern verbrannt ist oder verrottet in den Müllhalden des Kriegs. Hans Georg Friedmann zum Beispiel, der begabte Junge hatte sich Geschichten ausgedacht und sie mit Schreibmaschine herausgegeben. Sein letztes Bild, das ihn mit seiner Schwester zeigt, ist von 1942 aus Theresienstadt. Dort wurden beide Jugendlichen ermordet.

Julia hat es mir gegeben, die mich diesmal zusammen mit Svetlana vom Flughafen abgeholt hatte. Sie ist Jüdin; ihre Familie ist über die ganze Erde verstreut. Sie wird mir zeigen, wo einmal ihre Großeltern gelebt haben. Sie ist aktiv in der Janusz Korczak – Gesellschaft, die gerade einige Hefte des Hans Friedmann herausgibt. Sie sind gefunden worden und wurden der Gesellschaft übergeben.

Ankunft

Die Fahrt vom Flughafen Borispol geht über eine große Brücke. Der Dnjepr liegt da fast wie ein Meer. Neben uns fährt eine Militärkolonne mit riesigen, lehmverschmierten Rädern. Julia sagt, ihr zehnjähriger Sohn liebe solche Autos. Das Land ist im Krieg. Manche neuen Hochhäuser und Baustellen sehen aus, als wären sie schon jetzt in Zersetzung begriffen, stillgestanden im Prozess der Entstehung, im Wachsen schon überzogen von Rost. Dazwischen steht dann auch mal eine kleine Kirche mit goldener Kuppel, wie ein Blümchen in einem Geröllfeld, so dass man weiß, dass hier Kiew ist, die alte Stadt mit dem Goldenen Tor, das Herz der Ukraine.

Die große Stadt ist umzingelt von Autobahnen, die sich sechsspurig umeinander schlingen und übersät sind von tiefen Schlaglöchern, wie ausgeweidete Riesenschlangen, auf die der Winter ganze Salven abgefeuert hat. Nach diesem Winter, sagen sie, ist es besonders schlimm. Darüber ist ein weiter Himmel, er IST einfach, er wölbt sich nicht und erstreckt sich nicht, er ist einfach da, gleichgültig und zu groß, um eine Verbindung mit der Stadt zu haben, „wohl wenig bekümmert um uns“. Am fernen anderen Ufer erscheint jetzt die Silhouette der Altstadt auf den Hügeln. Zwischen die goldenen Kuppeln und das silbrige Freiheitsdenkmal hat sich ein neues Wohnhaus geschoben, ein ganzer Berg; ohne Rücksicht zu nehmen, ist er riesig und unförmig aus dem Boden herausgewachsen wie ein Konglomerat von Pilzen. Ich sage zu Julia, das sei wie in Jerusalem, wo auch kein Bauherr oder Architekt Rücksicht nimmt auf das Alte. Sie bestätigt, dass es keine Regeln gibt, und Korruption macht alles möglich. Das Hotel „Druschba“, Freundschaft, das wir ansteuern, ist dagegen ein bescheidenes Relikt der 70er Jahre, eine Art Fossil aus Platten und seltsamen Vorhängen. Draußen führt die achtspurige Löcherpiste vorbei, drinnen sitzen in Boxen, hinter trüben Glasscheiben, Frauen mit unklaren Beschäftigungen. Die eine verweist auf die andere, es ist noch wie im Sozialismus. Den Zimmerschlüssel bekomme ich dann im sechsten Stock. Die Concierge, eine dicke Frau in Strickweste, sitzt hier wie eine Spinne oder Sphinx in ihrem Netz aus vergilbten Gardinen. Sie gleicht dem sozialistischen Pförtner, den Brodsky beschrieben hat: Ein mythologisches Wesen, halb Mensch, halb Stuhl.

Ich hatte schon befürchtet, dass mir mein Zeitgefühl abhanden kommt wie oft in den anderen postsozialistischen Städten. Abends bin ich eingeladen in ein Ballett, Romeo und Juliette. Die alte Oper ist ein prächtiges Gebäude des 19. Jahrhunderts, mit vielen Säulen, Gold und Stuck, umgeben von einem weiten Platz und ebenso schönen Bürgerhäusern. Gleich dahinter ist der Platz mit dem mittelalterlichen Goldenen Tor, berühmt durch Mussorgski´s Bilder einer Ausstellung. Hier hat Julias Großmutter gern im Sandkasten gespielt, vor dem ersten Weltkrieg. Es ist beste Wohnlage. Ein Haus weiter ist eine Plakette angebracht zur Erinnerung an Janusz Korczak, der mit seinen Waisenkindern ins Todeslager gegangen ist. In der Oper sind heute lauter schöne junge Menschen, die sich in den schimmernden Kandelabern und Spiegeln selbst betrachten. Das Ballett Prokofjews hat genauso wenig wie Shakespeare ein gutes Ende, weil es keine Wandlung gibt: die feindlichen Familien bleiben unversöhnlich, bis zum Schluss auf dem Friedhof.

Arbeit an der Seele

Die Supervision in Gruppen zu vier, an den nächsten Tagen, führt tief hinein in die Situation der verstörten Kinder und ihrer Eltern und Geschwister. In vielen der Therapien, die wir besprechen, ist der Krieg im Osten spürbar. Es geht um verschwundene Väter, displaced persons, feindselige Großmütter, die mit dem Flüchtlingskind aus dem Donetsk nichts anfangen können, oder schlicht um völlige Verwirrung und traumatische Wiederkehr. Manchmal sind die Kolleginnen so tief in die gemeinsame Psyche eingetaucht, dass wir lange versuchen, eine Distanz und einen Überblick zu bekommen. Die Szenen, welche die Kinder im Sandkasten gebaut haben, sind erstaunlich genau in ihrer Symbolik. Öfter auch wird auf den Maidan vor drei Jahren angespielt, der jetzt „revolution of dignity“ heißt. Der Aufstand war für viele eine Zäsur im Leben, manchmal auch Anlass für synchronistische Ereignisse wie den Ausbruch eines Ekzems, dessen Dynamik die Familie zur Explosion brachte, eine Trennung der Eltern oder die Reaktivierung eines alten Traumas, wenn eine junge Frau dabei ist, wie ein Studienfreund erschossen wird.

Der öffentliche Vortrag für die Kindertherapeuten findet, wie das letzte Mal, in den Räumen eines der stalinschen Riesengebäude der Khreschatikskaya Straße statt. Vorn die Fassaden sind von imperialem Zuschnitt mit Säulen und ungeheuren Torbögen, wie für Riesen gemacht (Riesen mit schlechtem Geschmack). Wenn man jedoch eintritt, kommt man in ein schmales dunkles Treppenhaus, und die Räume sind ebenso niedrig und dunkel und entsprechen in keiner Weise der Pracht der Fassade. Oder gerade doch? Den sowjetischen Architekten muss der Gegensatz bewusst gewesen sein. Ich erinnere mich, dass die Stalinschen Hochhaustürme in Moskau ähnlich absurd sind, äußerlich Wolkenkratzer, innerlich geduckte Hallen wie im Krematorium.

Ich mache mir einen Spaß. Ich will ja sprechen über eine Sandspieltherapie, in der ein lebensgroßer Tintenfisch die Hauptrolle spielt. Der Junge, um den es geht, war kurz vor der Wende nach Westberlin gekommen, und er hatte in der Sandspieltherapie den Kraken benutzt und intensiv mit ihm gespielt. Der Kraken war ein Symbol für die umschlingende Mutter, aber auch für den sozialistischen Staat, aus dem sie entkommen waren. Ich habe diesen lebensgroßen Gummikraken in meiner Aktentasche. Ich erwähne Umberto Eco, der über das „Reisen mit einem Fisch“ geschrieben hat; ich sei dagegen mit einem Oktopus unterwegs. Alles wird schön ins Ukrainische und Russische übersetzt. Dann hole ich das große und zitterige Gummitier aus der Tasche, als wäre es lebendig, Beruhige dich, hab keine Angst, alles ist gut, ich frage, wer es auch einmal anfassen mag, und werfe es ins Publikum. Inna fängt den zappeligen Kraken tatsächlich auf. Die Leute lachen, und wohl auch die in Minsk, St. Petersburg oder Almaty, die den Vortrag life im Internet verfolgen. Zuletzt wird das Gedicht von Tennyson vorgelesen, in dem der große Urweltliche Krake stirbt:

Below the thunders of the upper deep;
Far far beneath in the abysmal sea,
His ancient, dreamless, uninvaded sleep
The Kraken sleepeth: faintest sunlights flee
About his shadowy sides; above him swell
Huge sponges of millennial growth and height;
And far away into the sickly light,
From many a wondrous grot and secret cell
Unnumber’d and enormous polypi
Winnow with giant arms the slumbering green.
There hath he lain for ages, and will lie
Battening upon huge seaworms in his sleep,
Until the latter fire shall heat the deep;
Then once by man and angels to be seen,
In roaring he shall rise and on the surface die.

Die Diskussion trübt sich ein durch Assoziationen an die Erwärmung der Meere, das Schmelzen des Eises und die erwarteten Überschwemmungen. Der Tod des Kraken im erhitzten Ozean am Ende der Tage erfasst alle. Doch ganz verstehe ich die Stimmung nicht, die so unvermutet umschwenkt in Bedrücktheit.

Das Seminar zur Geschwisterproblematik am nächsten Morgen, zu den verlorenen Familienmitgliedern in den Kriegen und Verfolgungen, den tödlichen Neid von Kain auf Abel, der als Erwählter den Segen des Vaters (des „Selbst“) hat, berührt wieder aktuelle Themen der Gruppe. Kaum erträglich ist, wenn Svetlana aus Saporoshje von ihrem 13-jährigen Patienten erzählt, der seinen Vater nie kennen gelernt hat. Da war eben kein Vater, der seinen Jungen annehmen und „segnen“ konnte. Der Vater, wenn er es denn war, wurde von Freischärlern im Osten erschossen. Immerhin kann der Junge jetzt weinen. Er sagt: Das Wichtigste für mich ist, dass ich einen Vater hatte! Da muss man jedes Wort betonen. Ich denke: Saporoshje ist der Ort, wo mein eigener Vater 1942 schwer verletzt wurde. Dort ist jetzt wieder Krieg. So allerdings blieben ihm der sichere Tod oder die Russische Kriegsgefangenschaft erspart. Doch was weiß ich wirklich?

Das Gefühl der Supervisonsgruppen, das immer mehr abgleitet in eine Art finsterer Beklemmung, verstehe ich erst, als ich erfahre, dass Richard W. im Januar gestorben ist: Richard Wainwright, der englische Analytiker und Supervisor, der 7 Jahre lang mehrmals im Jahr nach Kiew gekommen war und die Gruppe wesentlich mit aufgebaut hat. Er war wie ein Vater für sie, und sie haben ihn geliebt. Die allgemein deprimierende politische Lage und die Trauer um den persönlichen Verlust verbinden sich hier zu einem Knäuel von Gefühlen. Ich hatte in der Nacht vorher einen Traum, in dem ich meinen früheren Orgellehrer Helmut Walcha sah, als eine Gestalt im Gegenlicht in einer sich öffnenden Tür. Walcha war blind gewesen, er spielte das gesamte Orgelwerk Bachs aus dem Gedächtnis, das ihm seine Ehefrau einzeln, Stimme für Stimme, vorgespielt hatte. In der Supervision (ich wusste es nicht vorher) ging es nun merkwürdiger Weise um einen Jungen, der zunehmend sein Augenlicht verliert. Die Therapeutin litt mit ihm und sagte, sie sei völlig überfordert. Ich erzählte meinen Traum, und wie ich vor Jahren, als ich eine Zeitlang vermehrt suizidale Jugendliche als Patienten hatte, selber eine Supervision aufsuchte. Dort wurde mir gezeigt, dass ich mich mit meiner eigenen Suizidalität als Jugendlicher konfrontieren sollte – dann könne ich besser und furchtloser mit der Not der Patienten umgehen. Als ich jetzt davon erzählte, fiel der Therapeutin des erblindenen Jungen ein, dass sie selber, tatsächlich, in früher Jugend eine Augenkrankheit hatte und fürchtete zu erblinden. Das hatte sie ganz vergessen oder verdrängt. Wir können unseren Patienten nur so weit helfen, wie wir selber sind. Meine Traumerinnerung an Herrn Walcha hat uns geholfen. Beunruhigend, dass Walcha vor der sich ins Licht öffnenden Türe stand, wie ein Bote aus dem Jenseits. Doch woher sonst sollte er kommen, er ist vor vielen Jahren gestorben.

Babij Jar

Nach einem herzlichen Abschied von der Gruppe, fährt mich Maxim, der Sohn Innas, nachmittags nach Babij Jar. Der Name ist ein Begriff für etwas Unvorstellbares, das die Deutschen Soldaten 1941 angerichtet hatten. Ich kannte nur, ein wenig, den Text Jewtuschenkos aus einer Symphonie von Schostakowitsch. Ich wollte dort Blumen ablegen, doch ich hatte keine Vorstellung von diesem Ort. Wir fahren über den Maidan, an der ehemaligen KGB-Zentrale und der Philharmonie vorbei die alte Andrejewski Straße hinab zum Fluß. Links liegt das Viertel Podol, in dem Bulgakow gelebt hat; dort hat er Teile von „Meister und Margerita“ geschrieben. Bulgakow ist 1940 in Moskau gestorben. Sein Haus im Kiew hatte ich das letzte Mal angesehen, es ist ein seltsames, pittoreskes Museum wie für einen Zauberer, dessen Geist hier immer noch umgeht. Unten am Fluss werden neue riesige Brücken gebaut für den Verkehr nach Obolon und den Dniepr aufwärts. Wir fahren nach links in die Hügel, auf denen sich die Stadt hinzieht, in jener Mischung aus schlechten Straßen, Gründerzeithäusern, gelegentlich einer Kirche mit goldener Kuppel, bereits verfallenden Neubauten und Brachflächen mit Gestrüpp. Ich sitze neben Maxim, der seit seiner Schulzeit nicht mehr hier war und den Weg finden muss. Dann parken wir vor dem Eingang eines russischen Militärfriedhofs. Dahinter ragt ein Fernsehturm in die Höhe. Es ist ein absurder Ort. Wir müssen noch ein Stück laufen, sagt Maxim, die Straße entlang.

Babij Jar heißt, sagt er im Lärm der vorbeifahrenden Autos, soviel wie Wald der Dorffrauen, der Babijs oder Babuschkas. Es war ein Waldgebiet; in den Häuschen lebten alte Frauen, Großmütter mit bunten Kopftüchern. Man kann es mit Großmütterchenwald übersetzen. Jar heißt auch Schlucht, denn das Gebiet war durchzogen von einem Tal mit steilem Abhang. Nach einer Weile biegen wir links in einen Park ein, vorbei an einem polierten Gedenkstein mit kyrillischer, hebräischer und englischer Inschrift. Das Fundament hat die Form des Davidsterns. Dann kommen wir zu einer Senke. Sie ist einige hundert Meter lang und vielleicht sechs Meter tief. In der Mitte erhebt sich ein riesiges sozialistisches Denkmal mit muskulösen Soldaten aus Bronzeguss. Drunten auf dem Gras sitzen Leute in der Sonne und trinken Bier. Ein Vater lässt seinen Sohn mit einer Drohne spielen, die um unsere Köpfe fliegt. Drohnen sind die Waffen der Zukunft und ein infames Terrorinstrument. Hier wird damit gespielt. Um den Rand der großen Grube, dort wo sich damals die jüdischen Menschen aufstellen mussten, ist eine kleine Hecke. Ich kann es mir vorstellen und auch wieder nicht.

Ich bin also hinunter gegangen in die Grube und stand auf den Resten der Körper von mehr als 33000 Menschen, welche Deutsche Armee- und Polizeieinheiten im September 1942 an zwei Tagen erschossen hatten. 33771 Menschen sollen es gewesen sein, in perverser Genauigkeit gezählt. Die Juden von Kiew waren, wenige Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Armee, auffordert worden, sich zu einer Umsiedlung einzufinden. Endlos war der Zug der Menschen durch die Straßen der Stadt bis hier herauf. Sie mussten sich ausziehen und wurden unter Pöbeleien an den Rand der Schlucht gestellt, oder mussten sich gleich unten auf die Leichen der vorangegangenen legen, wo sie ebenso erschossen wurden. Es war ein ganzes Volk, Mütter stillten ihre Kinder noch, bevor sie drankamen, oder sie baten darum, mit ihren großen Töchtern gemeinsam zu sterben, um nicht erleben zu müssen, wie sie vergewaltigt wurden. Alte Menschen, würdige Greise und Greisinnen starben ebenso klaglos wie junge Eltern und Schulkinder. So lauten die wenigen Berichte von Augenzeugen. Das Geschehen wird dadurch jedoch nicht vorstellbarer. Der Hass auf das jüdische Volk, die Staatsideologie Hitlers, in Familien, Jugendverbänden, Schulen und Kirchen eingepeitscht und erlernt, der Sadismus, der Neid, und der Zwang in einer verbrecherischen Gemeinschaft, mitzutun, die Verrohung durch den Krieg seit 1939, die Entmenschung des Gegners und des Anderen überhaupt, des anderen in sich, der ungeheuer gewachsene Selbsthass muss es gewesen sein, der in dieser Orgie des Mordens herausgebrochen ist wie ein Eiterherd und als gemeinsame Psychose. Vielleicht ist es daher, dass ein Erinnern an Babij Jar so lange nicht möglich war. An einen psychotischen Ausbruch kann man sich nicht mehr erinnern, wenn er vorbei ist, und bei einer Massenpsychose ist es wohl ähnlich. Später haben die zurückkehrenden Sowjets die Schlucht weiter benutzt, nun für ihre Massenerschießungen, noch später hat ein Zementwerk seinen Abraum über die verbliebenen Knochenberge geschafft. Der Schuttberg muss so ungeheuerlich gewesen sein, dass 1961 eine Schlammlawine losbrach, ins Tal hinunter, und 1500 Menschen unter sich begrub. Großmütterchenwald wurde ein Unort. Die Sowjetunion wollte zuletzt den Ort auslöschen, bis einige Jahre nach dem Tod Stalins 1953 jenes Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko bekannt wurde, in dem zum ersten Mal von Babij Jar offen die Rede sein konnte. Schostakowitsch hat es vertont.

Maxim versucht mir die Geschichte des Ortes zu erklären. Es ist deutlich, wie auch der nette junge Mann letztlich keine Worte finden kann. Er fragt sogar mich (!), ob ich eine Erklärung hätte. Ich glaube, solange Menschen noch fragen, haben sie eine Zukunft. Maxim weist auf die verfallenden Garagen und den sowjetischen Militärfriedhof direkt an der Seite der Schlucht. Das Regime hatte keine Achtung, sagt er. Ich sage etwas davon, dass Kain großen Neid auf seinen Bruder Abel empfunden habe, dessen Opfer von Gott angenommen wurde, nicht aber seines. Die Deutschen hätten sich als das auserwählte Volk phantasiert und deshalb solchen Hass auf das Jüdische, das zuerst auserwählte Volk, entwickelt. Weiter komme ich nicht; ich spüre, dass mein Denken von diesem Ort blockiert war. Dann kann ich nicht mehr sprechen.

Auf dem Rückweg zum Auto spricht Maxim vom Militär. Er war zwei Jahre in der Armee, aber nicht im Kriegsgebiet. Es gebe einen großen Unterschied zwischen der Atmosphäre im Einsatz und der Atmosphäre zuhause. Während die Soldaten im Krieg zueinander halten und für einander einstehen, gibt es in der Etappe und Reserve nur Mobbing und Feindseligkeit. Wir kommen nicht dazu, diese Beobachtung mit der verschworenen Einstellung der Naziverbrecher im Krieg in Beziehung zu setzen. Doch sicher ist, dass jeder Krieg die Beteiligten zu Mördern und Komplizen macht und ihren zivilisierten Kern zerstört. Deshalb ist es so furchtbar, dass heute wieder Krieg geführt, im Osten der Ukraine, wo mein Vater 1942 dabei war. Er hatte ja nicht nur seine letztlich lebensrettende Verwundung mit nachhause gebracht, sondern auch ein Eisernes Kreuz dafür, dass er einen russischen Panzer in die Luft gesprengt hatte. Die brennenden russischen Soldaten verfolgten ihn bis in die Zeit meiner Jugend. Auf der Rückfahrt, nur ein paar hundert Meter nach Babij Jar, kommen wir an einem Kino vorbei, dessen riesige Reklamewand einen waffenstarrenden Horrorkrieger zeigte, mit dem Titel „The Glory of Death“.

Jesus und Pilatus

Die Rückfahrt führt dann durch Podol, unweit des Hauses von Michail Bulgakow. Es ist eine Phantasie, die mir eine Art Ausweg zeigen könnte. Vielleicht ist eine Abwehr, ein unbewusster Mechanismus, um mich zu schützen. Darüber zu schreiben ist ein Versuch, Land zu gewinnen, einen festen Ort, eine Beziehung, die Halt geben kann. Denn ich kann mit niemandem darüber reden, nicht mit dem Ukrainischen Kolleginnen, deren jede in ihrer Familie Opfer zu beklagen hat, sei es durch die Nazis, sei es durch Stalin. Und was heißt „Opfer“? Die Toten von Babij Jar sind nicht „geopfert“ worden, sondern geschlachtet. Zehn Jahre vorher, 1932, hatte Kiew einen anderen Genozid erlebt, die große Hungersnot, die von Stalins Administration angerichtet wurde. Das ganze Volk sollte ausgerottet werden, weil es sich den Kollektivierungsplänen der Bolschewiki widersetzt hatte. Die Gefühle der Überlebenden wurden auf die Juden gelenkt; die Nazischergen hatten Unterstützung durch die Ukrainische Polizei.

Bulgakows Roman kreist um Jesus und Pilatus, um den rechtlosen Juden und den Machthaber, der dessen Tod zu verantworten hat. Doch Bulgakow phantasiert zuletzt eine Versöhnung zwischen Jesus und Pilatus, zumindest ein Gespräch zwischen beiden im Jenseits, auf dem Lichtstrahl des Mondes. Der phantastische Roman des Ukrainischen Dichters, geschrieben bis 1940 (dem Tod Bulgakows), noch vor der Zeit des Kriegs und von Babij Jar, doch unter dem Druck der Stalinschen „Säuberungen“, verbindet sich für mich mit dem Werk des jungianischen jüdischen Psychoanalytikers Ernst Bernhard. Er war einer der Überlebenden des Holocaust, dem in Europa mehr als sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Bernhard war Analytiker, ein Kollege aus Berlin. Ich versuche, mir sein Leben zu gewärtigen. Er war Kinderarzt, Schüler von C. G. Jung und von Käthe Bügler im Berlin der frühen 30er Jahre. 1936 emigrierte er nach Italien, dort wurde er als Jude in einem Konzentrationslager interniert, aus dem er aber befreit wurde. Er überlebte die Nazizeit im Versteck und wurde nach der Befreiung zum Gründer der Analytischen Psychologie in Italien. Zu seinen bekanntesten Analysanden gehörte Federico Fellini.

Im Februar 1933 notierte Bernhard einen bemerkenswerten Traum:

Christus-Pilatus-Traum:

In einer Felsengrotte, unter der Erde, wird auf einem Steintisch Christus gemartert. (Daneben findet eine Sektion als Parallelvorgang statt.) Es werden ihm die Beine (Unterschenkel) zerschlagen. Ich stehe als Beobachter am Kopfende und denke, wie es nur möglich sei, dass man solche Qualen ertrüge. Ich sehe nach seinem Gesicht voller Besorgnis und stelle zu meiner Erleichterung fest, dass er ohnmächtig geworden ist. Nach einiger Zeit ist die Folterung vorbei. Jesus setzt sich auf dem Tische auf, und man bringt ihm etwas zu essen, rohe Makkaroni in einem Napf, die er mit dem Heißhunger eines Verhungernden verschlingt. Solcher Lebenswille ist mir erstaunlich: so isst man doch nicht, wenn man bereit ist zu sterben. Er erholt sich auch zunehmend. Nun legt die Menge der Juden, die der Marterung mit immer stärker werdender Feindschaft gegen Pilatus beiwohnte, diesem nahe, Jesus den Bruderkuss zu geben. Pilatus nimmt es an und geht zu Jesus hinüber. In diesem Moment ändert sich die Szene: beide stehen nebeneinander vor der felsigen Höhlenwand, von einem übernatürlichen Licht beschienen und in einem in sich ruhenden Gleichmaß, und gleichen einander wie ein Ei dem andern, ununterscheidbar. (Mythobiographie S. 20 f.)

Im Juni 1965 schrieb Bernhard zu diesem Traum einen Kommentar:

Zu Beginn des Traumes beobachtete ich die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit und fühle mich ein, etwa so, wie ein Assistent die Narkose bei einer Operation macht, wie ich dies jahrelang getan habe. Der Mythos ändert sich. Die Juden verteidigen Jesus und verlangen von Pilatus die Aussöhnung und den brüderlichen Kuss – der Gegenpol des verräterischen Kusses des Judas. Die Kreuzigung wird nicht stattfinden, auch nicht die Auferstehung und Himmelfahrt, sondern die Aussöhnung findet auf dieser Erde statt, zwischen Rom und Jerusalem, Jesus und Pilatus, die am Ende des Traumes Zwillinge werden. Das ist die große Lösung.

Ich habe nach dem Träume dessen Bedeutung intuiert, ohne mir jedoch der Tragweite bewusst zu sein.

Die Folterszene des Traums ist sicher nicht ohne Zusammenhang in mir aufgestiegen, vielleicht um dem Unvorstellbaren eine Art Geschichte zu geben. Die Wendung der Geschichte, die Versöhnung, würde bedeuten, dass die Kreuzigung nicht stattfinden wird: das heißt, dass auch Babij Jar nicht stattfinden wird, jedenfalls nicht in der transzendenten Welt von Träumen und Mythologien.

Für Bernhard war sein ganzes Leben ein Mythos; er nannte seine Lebenserinnerungen eine „Mythobiographie“. Ernst Bernhard war 1935 zu C. G. Jung nach Zürich gegangen und ist 1936 nach Italien ausgewandert. Sein Denken kreiste um den „Mythos“ seines Lebens: seine Rettung aus Deutschland, aus dem KZ im Italien Mussolinis, und den Sinn seines Überlebens. Er nahm, durch Träume und Imaginationen veranlasst, Abschied vom jüdischen Trauma, indem er es bewusst auf sich bezog: „Der jüdische Mythos ist der Mythos vom irdischen Paradies, vom Eintreten ins gelobte Land und vom Ausgestoßen-werden aus dem Paradies, weil die Phase (im jeweiligen Paradies) durch die Bewusstwerdung, das Essen des Apfels, erschöpft ist. Dieser Rhythmus geht klar auch aus meinem persönlichen Leben, aus den konkreten Lebensdaten wie auch aus einen Träumen und Imaginationen hervor. Ich habe dieses jüdische, archetypisch-mythologische Motiv – Ausstoßung aus der Sesshaftigkeit, zurück in die Wüste, um wiederum aus der Wüste heraus eine neue Position zu erobern – wiederholen müssen. Und das ist, was ich unter einer Mythobiographie verstehe, dass sich in meinem Leben dieses Mythologem des jüdischen Volkes auf diese sonderbare Weise manifestiert hat.“ (ebd. S.150)

Bernhard gelang es, sich aus dem Hitlerstaat („Ägypten“) zu retten (seine Eltern kamen um bzw. wurden ermordet); er wurde von den italienischen Faschisten interniert, doch später auch aus dem Konzentrationslager gerettet. Das ganz Besondere an seinem Denken ist, dass hier eine Lösung aufscheint, ganz ähnlich wie in Meister und Margarita von Bulgakow. Bernhard nannte es „die große Lösung“.

„Ich kann nicht umhin, mir bewusst zu sein, dass der jüdische Mythos in meiner Psyche eine neue Wendung nimmt. Ich sehe es aus meinen Träumen, aus meinem Schicksal, und ich habe diese Rolle, dass hier eine Wandlung des jüdischen Mythos stattfindet, zu rezitieren, ohne mir die Rolle zu zurechnen.“

Bernhard erlebt sich gewissermaßen als objektives Sprachrohr des kollektiven Unbewussten und seiner Umschichtungen:

„Als ich an der Westfront im Ersten Weltkrieg in den Schriften Bubers las, dass Jesus ein charakteristischer Jude war, empfing ich den großen Anstoß, mich tiefer mit der Gestalt Jesu auseinanderzusetzen. Eine der letzten Bestätigungen war für mich das Buch Bultmanns „Jesus“, in dem er ebenfalls Jesus als jüdischen Rabbi dargestellt hat. Damit war für mich die Brücke geschlagen für eine neue Verständigung zwischen Juden und Christus.“ Bernhard schreibt, dass auch die Protestanten sich bemühen, „zur Wahrheit zu kommen“. „Und die Jungsche Psychologie ist ja, nach Jung selbst, eine Bemühung des Protestantismus, aus der Krise des Protestantismus herauszukommen (Das Wesen des Jüdischen ist ihm allerdings fremd geblieben). Altes und neues Testament bilden für mich eine Einheit (…) Ich sehe in den Psalmen, in Jesaias eine Entwicklung des Jüdischen, die im neuen Testament einen Höhepunkt erreicht, damit aber, wenn ich richtig verstehe, nicht zu Ende geführt ist. Diese Entwicklung ist nun herangereift, meiner Ansicht nach in einer Krise des Judentums, die von den Juden noch gar nicht verstanden ist, und in einer Krise des Christentums, insofern das Jüdische im Christentum in eine Krise geraten ist. Und aus diesen beiden Krisen, die beide eines sind, scheint mir die große Idee, die große monotheistische jüdische Idee der Liebe Gottes einer neuen Reifung entgegenzugehen.“ (S.152 f.)

Ich weiß nicht, wie vieles von diesen Gedanken Bernhards wirklich in mir lebendig wurde, als wir vom Ort des Schreckens in die Stadt Kiew hinein fuhren. Es war wie eine Kristallisation von Gefühlen. Über die Parallele zu Bulgakow hatte ich schon vorher nachgedacht. So wie der Roman von „Meister und Margerita“ in einem phantastischen Hell-Dunkel geschrieben ist, aus dem die seltsamsten Gestalten lebendig auftauchen, so erschließt sich auch Bernhards Mythobiographie am ehesten mit leicht geschlossenen Augen. Eine eigenartige Parallele liegt auch darin, dass Bernhard einen Tag vor der Bekanntgabe seiner Mythobiographie starb, während Bulgakow am Tag nach dem Abschluss seines Manuskripts starb. Beide Bücher sind Vermächtnisse, die sozusagen mit dem Leben erkauft sind. Während Bernhards Erinnerungen Fragment geblieben sind, stellt sich Bulgakows Roman als ein geniales, schillerndes und vollendetes Werk mit verschiedenen Handlungsebenen dar – und darin auch wieder Bernhards Gestaltung nicht unähnlich. Der Roman spiegelt sich in sich selbst; er ist zweimal geschrieben worden, Bulkakow hat die erste Fassung vernichtet, und genau das ist Teil der Handlung der endgültigen Fassung. Es ist der Teufel, der die Handlung vorantreibt, und zum Schluss erfährt der „Meister“ eine Umwandlung, eine Art Verklärung und Einsicht in das große Geschehen der Menschwerdung, das dem gewandelten Verständnis Bernhards, seines Mythos und seiner Zeitlosigkeit nicht unähnlich ist. Und in dieser Zeitlosigkeit ist es, dass Jesus und Pilatus sich noch einmal besprechen können, dass sie das damals in Jerusalem abgebrochene Gespräch wieder aufnehmen können. Vielleicht werden sie Brüder wie bei Bernhard; die geistige und die weltliche Macht erkennen sich gegenseitig. Dann gibt es keine Kreuzigung, keine Auferstehung, keine Kriege, keinen Hitler und keinen Stalin, und auch kein Babij Jar mehr. Die Zeitgleichheit beider Visionen (Synchronizität) ist erstaunlich. Auch wenn unsere Zeit heute nicht danach aussieht, dass der veränderte Mythos im kollektiven Unbewussten politische Macht gewinnt, so ist er nun doch in der Welt. Wohltuend ist bei Bulgakow die Gestalt der Margarita, einer emanzipierten und klugen Frau, die aus Liebe zu ihrem Meister sogar ein Bündnis mit dem Teufel eingeht und zur begeisterten Hexe wird. Eine solche Frau findet sich in Goethes Faust-Drama noch nicht. Es markiert das einen Wandel in der Konstellation der Archetypen in unserer Zeit.

 

Kiew 2019

Mit gemischten Gefühlen bin ich jetzt am 29. Mai 2019 wieder nach Kiew geflogen und gestern am 3. Juni zurückgekommen. Das Supervisionsprojekt geht nun zuende. Vermutlich ist es meine letzte Reise hierher – schade! Ich sehe gerade, dass am Sonntag der 2.Juni war, der Tag von Benno Ohnesorg und Fritz Teufel. Der „schwierige Tag“ mit viel Arbeit für mich war jedoch der Samstag.

Ich hatte in diesen Tagen drei Mal Supervisionen in Gruppen zu viert, d. h. insgesamt zwölf schwierige Lebensgeschichten und Gegenübertragungen zu durchdenken, in jeweils einer Stunde. Bei der SV in der Gesamtgruppe hat Helena Ahverdova einen Fall vorgestellt. Die Gruppe von PACHAP (professional association for child analysis and psychotherapy) ist nett, lauter kluge Frauen, gut ausgebildet und engagiert als Kindertherapeuten. Ich mag sie, doch leider ist nun das dreijährige Projekt zu Ende, bei dem ich mich mit Michal aus Israel abgewechselt habe. Michal war zuletzt in Kiew im Februar.

Daria und Martin haben mich auf einen Berg gegenüber des Bulgakow-Museums geführt, einen merkwürdigen unbebauten Berg mitten in der Stadt. Dort oben findet sich eine kahle sandige Plattform, umgeben von Gebüsch, in dem alte Grabstätten mit Kreuzen verwildert und verrostet einen geheimnisvollen Eindruck machen. Hier oben feiert die Jugend ihre Feste und geheime Rituale, und insbesondere ist hier ein Hexenkult zuhause. Überhaupt, so Daria, die hier geboren und aufgewachsen ist, sei Kiew ein magischer Ort mit uralten magischen Traditionen, und Martin spricht vom latenten Polytheismus der ukrainischen Kultur. Bulgakows Margarita hat vielleicht hier ihren Ursprung; ich kann mir gut vorstellen, wie der junge Arzt und Schriftsteller hier oben wesentliche Eindrücke bekommen hat, die später in sein Werk eingeflossen sind.

Mein öffentlicher Bulgakow-Vortrag über „Das politische Selbst“ ist sehr gut angekommen. Das Beste war, dass Daria und Martin Skala den Pilatus-Jesus-Dialog mit verteilten Rollen aus der Bibel vorgelesen haben (meine Idee), und ich dann weitgehend frei gesprochen habe, und dass viele Leute da waren und sehr angeregt diskutiert haben. Sehr tief und engagiert, es war eine Wohltat!

Bulgakow war genau das richtige Thema – der Konflikt von Macht und Humanität, und die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“. Bei der letzten Wahl spielten die sozialen Medien die ausschlaggebende Rolle. Wer hat die Macht, und was ist Wahrheit? Die Wahl des neuen Präsidenten Selenski steckt allen im Hals, 75 % der Bevölkerung haben den Schauspieler gewählt, der nie in der Politik war. Poroschenko hat ihm sofort gratuliert. Niemand weiß, wie es jetzt weiter gehen wird, und wer wirklich hinter Selenski steht. Die Leute reden von wilden Parties im Präsidentenpalast – ich habe im Vorbeifahren jede Menge teurer schwarzer Riesenautos gesehen.

Es ist heiß hier, an die 38 Grad, Hochsommer und irgendwie sehr schön. Ich mag Kiew, die goldenen Kirchenkuppeln, den breiten Fluss, die Luft, das freie Reden. Es gibt viel Armut, selbst im Zentrum wo ich meistens war, doch auch viele schicke junge Leute, irgendwie freier als in Moskau (dort war ich vier Wochen vorher).
Am ersten Abend das Ballett war auch toll, ich wusste nicht, dass Schwäne so schön
tanzen können!
Doch hinter der Kulisse ist alles merkwürdig. Russland ist ein Problem für viele. Es ist der Krieg im Osten, die annektierte Krim, der Terror im Donbas. Putin, die Intrigen und das russische Militär sind gefürchtet. Inna K. sagte vorhin, sie fühlt sich (im Unterschied zu den russischen Freunden in Moskau) hier in Kiew frei – aber nicht sicher: I feel free in Kiev, but not safe.
Und Olga Kasyaneko (die kleine deutschsprechende Frau, die mit Inna in Potsdam bei
der Trialog-Tagung war) sagt, sie versteht nicht, wie Leute sich für den Krieg aussprechen können. Und Inna sagte, in Potsdam habe sie vier Tage nur geweint, doch in Kiew kann sie nicht weinen. Beide waren auf der Trialog-Tagung und sind voll des Lobs für Stefan Alder, der die Tagung organisiert und geleitet hat.
Für mich ist es wohl das letzte Mal in Kiew. Michal war im Februar das letzte Mal hier, und das Projekt läuft jetzt aus. Die Supervision heute Vormittag war aber so gut, dass ich überlege, irgendwie wieder zu kommen. Mal sehen…

In der Nacht nach dem Tag mit dem Seminar (zum „Selbst als Prozess“) und den vielen Supervisionen wurde es wirklich unheimlich.
Nachts 2.24. Ich habe ja diesmal wieder das schöne Zimmer im Hotel Salut, 5. Etage, mit der Aussicht hinunter und hinüber über den Berg zum Höhlenkloster mit den goldenen Kuppeln und dem
hohen Glockenturm. Ein ganz weites unverstelltes Panorama, einzigartig, ich bewundere und liebe es. Doch am Abend konnte ich fast nicht einschlafen, obwohl ich total erschöpft war. Unten, Richtung Fluss, war eine Veranstaltung vor dem großen Kinderzentrum, es war der internationale Kindertag. Es war eine Bühne aufgebaut mit lauter Musik und Darbietungen für die Kinder und Eltern. Später hörte ich dann über dem Wummern der Musik die Stimme von Ansprachen, öfter fiel das Wort „Soldaten“ auf Ukrainisch, und darauf jubelnde Stimmen vieler Menschen wie eben bei einer Popveranstaltung. Habe ich mich im Schlaf verhört?

Dann habe ich den Traum:
Ich bin in einem Krankenhaus verantwortlich dafür, dass für den bevorstehenden Angriff alles gesichert und auch die Leute aus dem Park in Sicherheit gebracht waren. Die großen Parkfenster (es ist wie ein heruntergekommenes Schloss) sind schon mit großen Pressholzplatten vernagelt, doch immer wieder kommen noch vereinzelte Leute und wollen hereinkommen. Ich schimpfe, denn es war klar, dass der Angriff unmittelbar bevorstand, und die Leute nahmen das nicht ernst. Ich sagte z.B.: Nun machen Sie mal, hier wird gleich die Hölle los sein. Dann war der letzte herinnen,
und im Gebäude krachte es schon, und in den riesigen kahlen Räumen fielen schon Teile herunter. Ein Mann, den ich gerade noch herein gelassen hatte sagte irgendwie auf sächsisch etwas vom Keller, in der er gehen wolle. Es war jetzt Krieg.

Dann bin ich aufgewacht, und der Lärm unten ist vorbei. Ich will den Traum aufschreiben und mache die Balkontüre auf, und draußen kommt ein unglaubliches Gewitter heran. Immer wieder leuchtet der Horizont im Wetterleuchten auf, manchmal ist es richtig hell, ich habe ja diesen weiten
Blick über den Berg und den Park mit dem Kloster, und vor dem hellen Himmel unter der dunklen Wolkenbank erscheinen die schwarzen Silhouetten der Kuppeln, des Glockenturms, in der Ferne die absurde große Statue der „Mutter Nation“ mit dem erhobenen Schwert. Links unten der Dniepr, breit wie ein See, und auf der anderen Seite weit weg die vielen Hochhäuser und Straßenlichter, die merkwürdig nah aussehen, weil sie in Wahrheit so riesig sind.

Ich bin auf dem Balkon. Jetzt wird die Luft ganz feucht, die Blitze kommen näher. Vielleicht fliegt Margarita gerade da oben durch die Wolken? Die Welt ist weit und riesig. Ich habe vor Gewittern eigentlich keine Angst.
Es ist bedrohlich, und doch seltsam so, dass ich weiß, das Kloster steht da schon 1000 Jahre. Doch jeden Augenblick könnte einer der Blitze hineinfahren in den hohen barocken Turm, oder in den Hotelturm, in dem ich auf dem Balkon sitze. Es wird stürmisch und unheimlich, und ich habe so ein „historisches“ Gefühl. Nicht nur weil ich hier wahrscheinlich nicht mehr herkomme. Der
weite Nachthimmel ist in merkwürdiger Stille und Bewegung, etwas wie bei Bulgakow in Meister und Margarita. Ist Margarita ist unterwegs, oben in der Luft, und mit ihr die finstere Truppe?

Dahinten in der Ferne, wo jetzt das Gewitter ist, östlich von Saporoshie, war damals der Krieg, und mein Vater war 1942 da und wurde verletzt. Gestern hatte ich eine Supervision mit Svetlana aus Saporoshie! Sie ist extra für die SV gekommen, ihr Zug ging abends um 9, und heute früh um 7 ist sie wieder dort. Sie nimmt viel auf sich, um die Gelegenheit zu nutzen, mit mir über ihre Patienten zu sprechen. Gleich dahinter ist Krieg zwischen Russland und Ukraine.
Bei den ersten Tropfen gehe ich hinein und schreibe jetzt diesen Text (auch damit ich den Traum nicht vergesse).
2:50, der Regen ist nicht so gekommen, es blitzt auch nicht mehr.
Ich habe insgesamt ein besorgtes Gefühl (gerade grummeln wieder die Donner in der Ferne). Ich habe Zeit, diesen Text zu korrigieren. Was ist damit gemeint, dass Inna sich hier frei fühlt (im Unterschied zu Moskau, wo jeder Angst hat), aber nicht sicher? Wird es Krieg geben? Können die Russen das machen? Wie fühlt sich eine Katastrophe an, die sich gerade aufbaut? Wie wird sie aussehen? Ich bin besorgt um die Menschen hier. Die Ukrainer haben den Schauspieler Zelenski zum Präsidenten gewählt. Jeder, den ich gesprochen habe, ist darüber erschrocken, niemand will es glauben, jeder ist besorgt. Die ganze Situation ist nicht berechenbar. Ist dieser Zelenski eine Marionette der Oligarchen, oder bringt er es sozusagen auf den Punkt, dass Demokratie bei der digitalen Manipulation nicht mehr geht? Vielleicht aber ist er klug und ein würdiger Erbe des Maidan von 2014? Ich kann darüber jetzt so gemütlich schreiben, weil das Gewitter offenbar vorbei ist.
Seltsam, das Alles. ich gehe jetzt wieder ins Bett.
Jetzt donnert es wieder heftig, aber weiter weg. Und jetzt ein heller Blitz wieder ganz nah. Und lautes Donnern, aber kein Regen. Der Regen kommt später, wie eine Erlösung.

Am nächsten Tag die letzte Supervisonsrunde, das Abschiedsessen mit der neuen Leiterin von PACHAP. Die vergangene Nacht war für alle schwierig, nicht so sehr wegen des Gewitters, sondern weil viele am Abend einen Film gesehen hatten über Tschernobyl. Es ist genau 35 Jahre her. Tschernobyl ist nicht weit weg. Damals wurde die Bevölkerung nicht informiert, das Trauma sitzt tief, das Misstrauen gegenüber den Russen ist so immer wieder begründet. Eine der Patientinnen, um die es in der SV geht, ist einen Tag nach Tschernobyl geboren. Ihre Mutter floh mit der Neugeborenen in Panik, als nach einigen Tagen die Katastrophe bekannt wurde. In den Sandbildern war das Trauma zu sehen. Mir tun die ukrainischen Kolleginnen leid. Ich erinnere mich an den 1. Mai damals in Berlin, als wir im Grunewald unser Kaninchen herum hoppeln ließen und dann in der S-Bahn erfuhren, dass eine Atomkatastrophe geschehen war. Doch Kiew war wirklich nahe daran. Eine der Kolleginnen hat später von ihrem Vater (einem Fernsehmann) erfahren, dass er gleich am ersten Tag informiert war, aber nichts sagen durfte. So verbinden sich Tschernobyl, der Holodomor, die Unterdrückung durch die Sowjets und Bolschewiken, zu einem Knäuel aus Angst und Misstrauen. Der Westen hat davon so gut wie keine Ahnung. Die Torheit von Northstream ist ein Beispiel.

Nach dem Abschied von der Gruppe fahre ich mit Oxana Z. und ihren beiden Buben Platon und Iwan zu ihrem Haus aufs Land. Ich kenne es vom letzten Mal, es ist ein großes Blockhaus inmitten von Grün und einem schönen Blick über die ukrainische Landschaft. Alles ist gewachsen, die Rosen duften, viele Schmetterlinge fliegen um den Jasmin. Dmitro kommt in der Nacht von einem Seminar in Charkiw zurück, und wir frühstücken zusammen.

Die ukrainische Gruppe wird in Wien als member society der IAAP anerkannt werden, trotz des inneren Konflikts zwischen den Russen und den Ukrainern in der Gruppe. Das wird nicht lange halten, meint Dmitro. Wie soll es auch gehen, wenn im Osten fortwährend Menschen von Russen erschossen werden, auch Kinder? Oxana, die sich eher zurückhält, bestätigt dass russische Soldaten dort sind. Dmitro erklärt mir etwas aus der Geschichte. Russland hat immer wieder gegen die Ukraine gekämpft und sie sich einverleibt, unter Katharina, unter den Romanows, unter den Bolschewiki und Stalin. Die Annexion der Krim ist jetzt nur ein Anfang, fürchtet er. Und mit Northstream wird Putin ganz Europa in der Hand haben, und die Ukraine und Polen schädigen. Er sagt auch, die russische Kultur habe viel von der Ukraine übernommen, nicht nur die orthodoxe Religion und ihre Rituale. Zu spüren ist ein Gefühl von Überlegenheit, die auf der anderen Seite Neid produziert. Zurzeit wird der Konflikt ausgetragen in der Frage der Ukrainischen oder Russischen Kirche. Die Lawra (das Höhlenkloster) gehört der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Dmitro erzählt, wie er damals als frischgebackener Klinikarzt Patienten aus Tschernobyl behandelt hat. Sie galten als sehr schwierig. Niemand hatte damals einen Begriff von PTSD, dem posttraumatischen Stress-Syndrom; den Begriff gibt es erst seitdem.

Dmitro schenkt mir zum Abschied eine Geschichte von Taras Shevchenko: Kateryna (1838). Es ist ein tieftrauriges Gedicht; Dmitro sagt, er muss immer weinen, wenn er etwas von Shevchenko liest. Shevchenko ist der Ukrainische Nationaldichter. Wenige Jahre vor seiner Geburt hatten die Russen in der Ukraine die Leibeigenschaft eingeführt (!). Der begabte Junge war also ein Leibeigener, den sein Besitzer auspeitschen konnte, wenn er verbotener Weise zeichnete, doch der sich 1838 für 3500 Rubel, die Freunde dafür aufbrachten, freikaufen konnte. Der zentrale Satz in Kateryna lautet in der Übersetzung: O lovely maidens, fall in love, But not with Muscovites, For Muscovites are foreign folk, They leave you in a plight.

Das Mädchen Kateryna wird von dem Russischen Offizier, in den sie sich verliebt, geschwängert und geht elend zugrunde. Als in Moskau der Vater seinen Sohn eines Tages als Bettler auf der Straße sieht, erkennt er ihn, doch wendet sich ab. Das Gedicht handelt, wie ersichtlich, eigentlich vom Verhältnis der Ukraine zu Russland. Muscovites are foreign folk.

Auf der Fahrt zum Flughafen erzählt Oxana von ihrer Arbeit. Sie fährt jeden Tag über eine Stunde in die Stadt und zurück. Sie braucht das Leben auf dem Land. Was die Politik angeht sieht sie keine Lösung.

* * *

Heute beim Zusammensetzen der Texte verstehe ich einige Zusammenhänge meiner Arbeit in Kiew, über die ich nicht nachgedacht hatte. Da ist zum Beispiel die Szene mit dem Oktopus, dem Kraken. Ich bin ein intuitiver Mensch und ich mache einiges aus einem Gefühl heraus, das mir gar nicht bewusst ist. Ich wollte ja einen Spaß machen. Dass der Kraken in Tennyson´s Gedicht aus der Tiefe auftauchen wird, sehe ich jetzt wie ein Symbol für ein unheilvolles Geschehen, das auf eine mir noch unbekannte Weise mit Kiew und der Ukraine verbunden ist.

Editorisches

(Texte zusammengefasst im Juni 2019. Der erste Teil bis S.3 oben ist veröffentlicht in: Sandspieltherapie Heft 36, Juni 2014, 87-91, ISSN 1610-1715, unter dem Titel: Ukraine – Sandspiel und Politik)

Jörg Rasche